8. Juli 2009
Wachstumsreligion - eine ketzerische Schrift
Rubrik: Sonstiges
Paranoia der Wirtschaftsführer – gefährliche Wahnvorstellungen
von Dr. Horst G. Kaltenbach, Juli 2009
In der Entwicklung unseres westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystems ist „Wachstum“ zur heiligen Kuh geworden. Ob Politik oder Wirtschaft, alle Meinungsführer beschwören das Wachstum als Voraussetzung für eine gesunde Zukunft. Nach den Gesetzen der Ökonomie wie auch der Naturwissenschaften gibt es kein fortwährendes Wachstum. Doch die Wirtschaftführer haben nur noch einen Tunnelblick auf Wachstum, verstanden als finanzielles Wachstum. Logik wir durch Wachstumsreligion ersetzt. Daraus leiten sich weitere paranoide Prinzipien für Organisation und Mitarbeiter ab: Die jederzeit im Detail kontrollierbare Organisation. Der jederzeit ersetzbare, abbaubare Mitarbeiter. Viele Manager – die Managerinnen weniger – sehen den Irrtum ein, trauen sich aber nicht von der Wachstumsreligion zu verabschieden. Denn dann würden sie selbst verabschiedet. Paranoia des Systems.
Wahnvorstellung „ständiges Wachstum“ – Geldblick vor Weitblick
Wenn Politiker gefragt werden, wie die horrenden Schulden unserer Volkswirtschaft jemals getilgt werden können, argumentieren sie mit Wachstum. Denn dann würden die Steuereinnahmen steigen und wir könnten uns damit aus dem Sumpf herausziehen, sagen sie.
Wenn Unternehmensführer bei Gewinnrückgang nach ihrer Strategie gefragt werden, schildern sie Wachstumsstrategien. Denn nur dann ließe sich der Profit und das Einkommen der Mitarbeiter erhalten. Absatz, Umsatz und Gewinn müssen zunehmen. Sobald die Geschäfte des Unternehmens stagnieren wird nach anderen Wachstumsquellen gesucht. Allen voran der Kauf anderer Unternehmen. Denn dann kann die Unternehmensleitung wieder stolz Finanzvolumenwachstum, Größenwachstum präsentieren – und Zunahme der Marktmacht. Wenn dann der Schuss nach hinten losgeht, werden externe, unbeeinflussbare Gründe erfunden, statt sich einmal zu den wirklichen Ursachen zu bekennen:
Es müsste eigentlich Unternehmenslenker geben, die zumindest ein paar Semester Ökonomie studiert haben. Dann müssten sie die Entwicklungsgesetze der Märkte und des Bedarfes kennen. Stichwort Sättigung!
Bei zwei Tafeln Schokolade pro Kopf pro Tag ist wohl endgültig Wachstumsende des Schokoladenverbrauchs. Globalisierung? Nun, in den Entwicklungsländern ist zeitversetzt auch mal mit Schokoladenkonsumwachstum Schluss. Wieso sollten dann Schokoladenfabriken noch wachsen können? Wenn einmal alle Familienmitglieder mit Führerschein einen Pkw besitzen und ebenso alle Führungskräfte der Wirtschaft ein Dienstauto fahren, ist wohl auch Schluss mit dem Absatzwachstum von Autos. Dann ist auch Schluss mit dem Wachstum der Maschinenbauer für Schokoladen- und Autofabriken. Dann ist auch Schluss mit dem Wachstum der Kakaoplantagen und der Benzinraffinerien. Analog. Dann ist Schluss mit dem Wachstum der Finanzvolumina privat, in Unternehmen und Banken. Wir sind an diesem Punkt. Die künstlichen Produkte wie die aktuell berühmten„Giftpapapiere“, sind u. a. eine Folge des Wachstumswahnsinns. Andere künstliche Produkte sind z. B. die vielen Dinge, die ein Handy können soll. So der Verzweiflungskampf der Telekommunikationsunternehmen. Weil sie auch vor der Sättigung stehen.
Fragen:
Verehrte Wirtschaftsführer, wo sind die Strategien für den Normalzustand, den gesättigten Bedarf der Bürger? Strategien für die Sinnerfüllung auch ohne Geldwachstum?
Verehrte Politiker, wie werden die Staatsschulden (=unsere Schulden) bezahlt, wenn der Normalzustand eingekehrt ist?
Wie kann ein Unternehmen seinen volkswirtschaftlichen Sinn erfüllen, auch wenn es nicht mehr wächst?
Antwort gibt eine Alternative
Die Theorie der kleinen Einheiten steht gegen die Theorie der large scales. Das sind gegenseitig strategische Feindbilder. Es wird zwangsweise ein turnaround zu „klein, fein, sinngebend stattfinden. Die Ökologie wird profitieren. Karl Marx hatte das vorausgesagt. Die Lenker wissen es. Aber sie vertuschen es noch, weil es sonst zu viele Austritte aus der Wachstumskirche geben würde.
Abgeleitete Wahnvorstellung „perfekte Organisation“ – Kontrolle vor Selbstorganisation
Alle Organisationswissenschaftler begründen, warum die „Selbstorganisation“ in unseren so komplex gewordenen Unternehmensorganisationen die einzige wirksame Lösung für Produktivität, Effizienz, Innovation, letztlich Fortschritt ist. Doch der besagte paranoide Wachstum-für-Profit-Tunnelblick hat plausiblerweise zur Folge, dass im Unternehmen, in der Organisation alles bis ins Kleinste kontrolliert wird, um auf alle Fälle die Gewinne kurzfristig zu sichern. Das klappt zwar immer weniger, doch umso wilder greifen die Controller ein.
Auch hier offenbart sich Religion statt Vernunft: Gerade in schwierigen Zeiten, wenn sich in der Geschäftsentwicklung Ladehemmungen bemerkbar machen, ist die klammernde Organisation machtlos.
Freiraum für eigene Gedanken, für Eigenverantwortung von Talenten und Teams brächten Ideen für den Fortschritt. Vielleicht käme man in der Belegschaft auf Ideen für zusätzliche Leistungen, für das Ausscheren von dem „Mehr vom Gleichen“. Doch das Klammern der Geschäftsleitung verhindert jegliche Selbstorganisation. Das wäre die Alternative, welche Initiativen, Weitblick, Innovationen bringen würde – und Gewinn auch bei kleinerem Volumen. Doch da müsste erst therapeutische Enttrübungsarbeit bei den Investoren und Lenkern stattfinden. Mitarbeiter und Teams haben ein eigenes Interesse für den Fortschritt und legen sich ins Zeug, wenn es eng wird. Sie würden loslegen wie Turbolader, wenn sie dürften.
Doch die Unternehmen, welche das in unserer Wachstumskultur wagen, findet man kaum. Die überwiegende Mehrzahl hat Panik und klammert immer mehr. Sie geben sich als moderne Organisation, indem sie z. B. Prozessmanager etablieren. Das sind aber praktisch nur Wächter der Einhaltung der kleinsten normengerechten Schritte. In stagnierenden Zeiten müssten die Prozessmanager nach Änderung der Prozesse suchen. Wenn sich die Situation ändert, müssen sich die Prozesse – und Strukturen – ändern. Mit dem Prinzip Selbstorganisation könnte das gut klappen. Doch davor haben die Wachstumswächter eine panische Angst. Sie leben in dem Wahn, jedes Schräubchen im Griff haben zu müssen, um nicht den kurzfristigen Gelderfolg zu gefährden. Sie predigen zwar Öffentlichkeitswirksam Delegation von Verantwortung. De facto rennen sie mit der Zwickzange hinter jedem Schräubchen her, das sich gelockert hat. Die so genannten leitenden Angestellten dürfen heute in der Mehrzahl der größeren Firmen nicht mal einen einzigen Mitabeiter eigenverantwortlich selbst einstellen – feuern dagegen schon. Sie leiten eben nur die Ordnung des Systems für den wahnsinnigen Fürsten der Wachstumskirche. Wenn etwas gar nicht mehr klappt, wird abgebaut, aber nicht geändert.
Aktuell: recht komisch, dass so viele Unternehmen, die angeblich schon auf Staatshilfe angewiesen sein sollten, nach einer gewaltigen Volumenschrumpfung noch Gewinn machen. Auch Unternehmen, die keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen haben (tägliche Presse). Ist das Wachstum doch keine zwingende Voraussetzung für ein normales Auskommen? Nun, die Fürsten würden vielleicht wieder zur realistischen Sicht gelangen. Aber die Investoren möchten ihr Geld weiter wachsen sehen. Sie sind die Päpste der Wachstumskirche und halten ihre Trübungen für die Bibel der Wirtschaft.
Autor:
Dr. Horst G. Kaltenbach, Inhaber Kaltenbach Karrieremanagement,
www.kaltenbachconsulting.de
hilft Talenten, ihre Karriere zu managen und hilft Unternehmen, die richtigen Mitarbeiter für den richtigen Platz zu gewinnen. Dabei stößt er immer wieder auf die beschriebenen Phänomene.
Er ist Autor des Erfolgsbuches "Persönliches Karrieremanagement", Gabler
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